Tod eines Grenzgängers

Am 8. April 2011 brachte die Frankfurter Allgemeine Zeitung
eine bezahlte Todesanzeige folgenden Inhalts:

„Wir trauern um unseren Kollegen, Partner und Freund Juliano Mer Khamis, der mit der Sprache der Dichtung einen Weg in die Freiheit ebnen wollte. Als Sohn einer israelischen Jüdin und eines Palästinensers trug er die Grenze in sich und überschritt sie Tag für Tag, Stunde für Stunde, Herzschlag um Herzschlag.

Am 4. April 2011 wurde Juliano Mer Khamis vor seinem Theater in Jenin kaltblütig ermordet.“
Unter der Todesanzeige standen die Namen von 12 Theaterorganisationen

Juliano Mer Khamis – Sein letzter Tag

Der Abschied entsprach seinem Leben. Der letzte Weg des Juliano Mer Khamis machte die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen zwischen Israelis und Palästinensern schmerzhaft bewusst, doch an jedem Ort, an dem sein Leichnam Station machte, konnten eben diese Grenzen, für einen kurzen Augenblick aufgehoben, ja gesprengt werden. Es waren bedrückende Momente, als sich am Vormittag Tausende vor dem Al Midan Theatre in der israelischen Hafenstadt Haifa versammelten. Julianos Stadt. Die Menschen strömen hinein ins Dunkle des Bühnenraums, da ist der Sarg aufgebahrt, dann hinaus. Geblendet von der Frühlingssonne bilden sie Menschentrauben. Es sind israelische Palästinenser - manche nennen sie israelische Araber -, jüdische Israelis und mehrere Dutzend Palästinenser aus der Westbank, die eine Sondergenehmigung für den Tag erhalten hatten. Größen der Theater- und Filmbranche, Aktivisten, Nachbarn, die alte Garde der israelischen Kommunisten. Der einzigen Partei, die sich als Heimat beider Völker verstanden hatte und sich dies zum zentralen Slogan machte.

In dieser verschlafenen nordisraelischen Stadt gibt es manche Straßen, in denen Juden und Palästinenser selbstverständlicher miteinander leben als anderswo. Und jetzt, eine kurze Momentaufnahme, scheinen diese überschaubaren Koexistenz-Kieze sich auf die zentrale Straße auszubreiten. Da hissen mehrere Aktivistinnen die palästinensische Fahne. Doch die Polizei greift nicht ein und kümmert sich lediglich um den Verkehr, und die Teilnehmer wispern unbeeindruckt weiter auf Hebräisch und auf Arabisch. Immer wieder brechen Menschen in Tränen aus, vor allem die Schauspielschüler und die Mitarbeiter des Freedom Theatre Jenin wissen nicht wohin mit ihrer Trauer, in dieser fremden Stadt ihrer Besatzer, die sie größtenteils zum ersten Mal sehen. Als Jenny, die Witwe, kommt, ihr von blonden Haaren umrahmtes Gesicht kreidebleich, hochschwanger, beherrscht sich kaum noch jemand. Von Haifa fährt ein Korso nach Jalame, dem berüchtigten Checkpoint nahe Jenin, der Israel von den besetzten Gebieten trennt. Palästinenser aus der Westbank und Gaza erhalten kaum Genehmigungen Israel zu betreten, folglich können viele Wegbegleiter dem Begräbnis nicht beiwohnen. Auf der anderen Seite können jetzt Freunde aus Jenin und der restlichen Westbank um seinen Leichnam trauern. Ein Sonderkorridor wird für den Sarg eröffnet. Es sind israelischen Soldaten und Offiziere, nicht die gewohnten unverschämten Kräfte der privaten Sicherheitsfirmen, die uns empfangen. Mit Respekt. Wir können nicht mit auf die andere Seite, die Sicherheitsprozeduren wären zu umfangreich, wir kämmen nicht rechtzeitig zurück. Zu Hunderten stehen wir am Zaun, schauen auf die andere Seite, auf die Westbank. Das Gefühl der Ohnmacht steigt. Doch als der rote Leichenwagen Juliano und einige Begleiter auf die andere Seite bringt, gibt es stehende Ovationen. Juliano hat diese unüberwindbare Grenze überschritten.
Tsafrir Cohen

Der namhafte israelische Journalist Gideon Levy schrieb in der Zeitung Ha’aretz zum Mord an dem unvergesslichen Erbauer einer kulturellen Brücke zwischen Israelis und Palästinensern: Ich sah Mer-Khamis zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort. Es war in den späten 80er Jahren. Er stand tagelang im vorderen Hof des Israel Fringe Theatre in Acco: sein nackter Oberkörper mit Öl eingerieben. Er war Teil einer Einmannschau, die kein Ende zu haben schien. Jahre später sah ich zufällig „Arnas Kinder“ einen brillanten Film, den er mit seiner todkranken Mutter drehte. Arna Mer, die Gründerin des Theaters in Jenin und die Tochter des Arztes, der in Rosh Pina die Malariakranken heilte. Man könnte behaupten, es sei der bewegenste Film, der je über die israelische Besatzung gedreht wurde. Seitdem hab ich ihn bei vielen Gelegenheiten getroffen - immer im Lager . Dieser große, stramme, hübsche Mann mit viel Charisma - ein Jude und ein Araber wegen seiner Eltern - vielleicht ein Jude in den Augen der Araber und ein Araber in den Augen der Juden. Er entschied sich, sein Leben Jenin zu widmen, wo er als ein Israeli und als Mensch lebte. Einer der talentiertesten Schauspieler, den es je hier gab, und er war auch der Mutigste inter ihnen. Die sieben Kugeln löschten das Licht des Mutes, das von ihm ausging.