Das Beit Sahour Medizinische Zentrum



Widerstand, Erwartung und Verwirklichung (von Rifat Odeh Kassis)

Das Jahr 1987 war gekennzeichnet durch den Beginn der ersten Intifada: Eine Bewegung palästinensischen Widerstands gegen die zunehmend harte und unterdrückerische Besatzung durch Israel. An vielen Stellen führten die Zusammenstöße zu Gewalt, und die Zahl der Todesopfer wuchs. Beit Sahour, eine Stadt etwas östlich von Bethlehem im Westjordanland, verlor mehrere Bürger in diesen Zusammenstößen. Dies geschah, obwohl Beit Sahour eine einmalige Geschichte gewaltfreien Widerstands hatte und im Grundsatz gewaltfrei blieb.

Einzelpersonen wie Geschäftsleute beteiligten sich in Beit Sahour an verschiedenen Arten des zivilen Widerstands – die bekannteste Art war die stadtweite Steuerverweigerung. Diese veranlasste die Besatzungsregierung dazu, viele öffentliche und private Dienstleistungen vollständig zu unterbinden. Aber die Bürger von Beit Sahour blieben standfest. Die Gemeinde gründete eine Reihe von Komitees, um verschiedene Sparten des palästinensischen öffentlichen Lebens zu organisieren. Es gab viele solcher Komitees, und ich will nur einige davon beim Namen nennen: Ein Erziehungs-Komitee, um die vom israelischen Militär geschlossenen Schulen zu ersetzen; ein Landwirtschafts-Komitee, um den Menschen zu helfen, in ihren Vorgärten und Höfen Gemüse zu ziehen; Gemeinde- Komitees, um die Polizei zu ersetzen und Konflikte zwischen Einwohnern zu lösen; Gesundheits-Komitees, um akut Kranke und chronisch Leidende zu versorgen ebenso wie Verletzte infolge von Zusammenstößen bei Demonstrationen gegen die Besatzung.

Das zentrale Gesundheits-Komitee verfestigte sich und seine ständigen Mitglieder fassten den Gedanken, in Beit Sahour eine eigene Klinik mit eigenem Budget, Personal und festen Öffnungszeiten zu gründen. Solch eine Klinik würde auch den Menschen der Umgebung von Beit Sahour zu Gute kommen, insbesondere den Bewohnern der Dörfer östlich der Stadt, in denen es überhaupt noch keine medizinischen Einrichtungen gab. Ich hatte den Vorzug, an mehreren der öffentlichen Komitees in Beit Sahour beteiligt zu sein und wurde deswegen (zusammen mit mehreren Dutzend Mitbürgern) ins Gefängnis gesteckt. Die Klinik wurde eröffnet während ich in Haft war. Mein Sohn Dafer, damals drei Jahre alt, war der allererste Patient, und er wurde ohne Bezahlung behandelt, weil sein Vater im Gefängnis saß. Das war in jener Zeit der Gemeinschaftssinn von Beit Sahour – diejenigen (zahlreichen) Familien zu unterstützen, deren Ernährer verhaftet waren. Die Klinik war und blieb ein Erfolg. Dank eines der Sache tief verbundenen Gründungs- Direktors, Mitarbeitern und eines Freiwilligen-Teams, verstärkt durch die Unterstützung der Einwohner Beit Sahours, war dieses eines der wenigen Projekte, die zur Dauereinrichtung wurden. Unterstützung und Erfolg ermöglichten es der Klinik, größeren Ehrgeiz zu entwickeln. Statt sich damit zu begnügen, eine kleine Klinik zu sein, plante die Leitung eine schnelle Ausweitung. Ehe das Jahre zu Ende ging, waren die Behandlungsprogramme der Klinik verdoppelt. Ich erinnere mich: Im ersten Jahr ihrer Existenz behandelte die Klinik über 10.000 Personen.

Heute ist die Beit Sahour Klinik nicht einfach nur eine Klinik, sondern ein Medizinisches Zentrum mit einem Dutzend Ärzten vieler Fachrichtungen, ausgerüstet mit eigenem Laboratorium und etlichen Diagnosegeräten. Und die Klinik war nicht gewillt, es dabei zu belassen! Im Jahr 2000 begann sie die Planung eines eigenen Krankenhauses, das die Region dringend benötigt. Planung und Ausführung haben allen Beteiligten enorme Anstrengungen abgefordert. Aber die Arbeit beginnt sich auszuzahlen. Das Krankenhaus wird Wirklichkeit. Es wurde im Juni 2010 offiziell eröffnet. Die Geschichte der Klinik in Beit Sahour ist, so können wir mit Überzeugung sagen, eine Erfolgsgeschichte. Aber es ist nicht nur die Erfolgsgeschichte dieser Klinik. Vielmehr werden wir auch daran erinnert, dass eine öffentliche Initiative zu einer funktionstüchtigen Organisation werden kann; dass ein kleines Gemeinde-Projekt, begonnen in einer Umgebung von Druck und Kreativität, neue und immer mehr wachsende Möglichkeiten hervorzubringen vermag.

Anmerkung: Rifat Odeh Kassis, ein prominenter Bürger der Stadt Beit Sahour, ist Präsident der weltweit tätigen Organisation „Defence of Children International“ und Direktor des palästinensischen Zweigs der internationalen Kinderrechtsorganisation. Von 1995 bis 1998 arbeitete er am Aufbau eines Rehabilitationsprogramms für verletzte und traumatisierte Kinder in Tschetschenien mit. Kassis ist Mitglied der Kirchenleitung der palästinensischen lutherischen Kirche.



Von der Ambulanz zum Krankenhaus

Das Medizinische Zentrum Beit Sahour wurde 1988 von Dr. Majid Nassar gegründet, nachdem der Arzt sein Fachstudium (Internist) in Deutschland abgeschlossen hatte. Damals war die erste Intifada, der palästinensische Aufstand gegen das israelische Besatzungsregime, fast ein Jahr alt. Obwohl die Palästinenser in Orten wie Beit Sahour einen gewaltlosen Widerstand bevorzugten, zum Beispiel durch einen Steuerboykott, gab es im Konflikt mit israelischen Soldaten doch immer wieder palästinensische Verletzte. Deswegen kam die von Dr. Majid Nassar gegründete Ambulanz sozusagen in schwerer Zeit zur rechten Zeit. Zudem bestand (und besteht) für die Bevölkerung eine Reisesperre zum nahegelegenen Jerusalem mit all seinen Krankenhäusern und Spezialkliniken.

Die 1988 gegründete Ambulanz bestand anfangs aus zwei gemieteten Behandlungsräumen und einem Wartezimmer. Man begann mit fünf Angestellten. Es gab einen Internisten (Dr. Nassar), einen Allgemeinarzt, eine Krankenschwester, eine Sprechstundenhilfe und eine Putzhilfe. Die Ausstattung mit Instrumenten, Geräten und Möbeln war äußerst dürftig. Dennoch konnte 1996 auch eine Tageschirurgie die Arbeit aufnehmen. Operationen fanden in einem Container statt, der mit dem Klinikgebäude verbunden wurde. Solche großen Schritte in der Entwicklung des Medizinischen Zentrums wurden dadurch möglich, dass neben den finanziellen Zuwendungen von kleinen Fördervereinen auch größere Spenden aus dem Bereich der Entwicklungshilfe eingingen.

Zur Zeit beschäftigt die Klinik 42 Vollzeit- und 12 Teilzeit-Kräfte. Die vorhandenen Spezialisten sind in 24 medizinischen Fachbereichen tätig. Konnten Ärzte und ihre Mitarbeiter anfangs nur 13.000 bis 15.000 Patientenbesuche je Jahr bewältigen, sind es in den letzten Jahren 70.000 bis 80.000 Behandlungsfälle gewesen. Patientinnen und Patienten kommen nicht nur aus der kleinen Stadt Beit Sahour. Da fast alle Bewohner des palästinensischen Städtedreiecks Bethlehem, Beit Jala und Beit Sahour von Arzt- und Krankenhaus-Besuchen im nahegelegenen Jerusalem (ca. 10 km) ausgeschlossen sind, kommen Menschen aus dem gesamten Gebiet in die Klinik.

Ab dem Jahr 2000 wurde am Bau eines regelrechten Krankenhauses neben der bewährten und stark frequentierten Ambulanz (Klinik) gearbeitet. Die zweite Intifada, ein erneuter Aufstand nach damals 33 Jahren brutalem Besatzungsregime, verstärkte noch die Aussperrung der Palästinenser des Westjordanlandes von Jerusalem. Auch machte in Beit Sahour die steigende Patientenzahl eine größere Anzahl von Zimmern und Betten für die post-operative Behandlung der Operierten dringend erforderlich. Ebenso machten die in jener Zeit vom israelischen Militär häufig verhängten Ausgangssperren es notwendig, einen Zufluchtsort für Behandelte zu schaffen, die im Ausnahmezustand nicht mehr nach Haus gelangen konnten. Der deutsche Förderverein für das Medizinische Zentrum in Beit Sahour hat vom ersten Tag an den Bau des Krankenhauses unterstützt.

Freundinnen und Freunde des Dr. Majid Nassar hatten sich 1992 zu einem Förderverein e.V. zusammengeschlossen, der sich heute auf rund 100 Mitglieder und ständige Spender / Spenderinnen stützen kann. Auch sind im Laufe der Zeit die Zuwendungen der Kraus-Stiftung ein wesentlicher Bestandteil der Erfolgsgeschichte des Entstehens eines Medizinischen Zentrums in Beit Sahour geworden. Im Sommer 2010 konnte ein Teil des Krankenhaus-Neubaus den Betrieb aufnehmen.

Die Bauherren sind ehrgeizig. Sie wollen auf das nun zweistöckige Haus noch eine dritte Etage bauen, um dort 22 Patientenbetten und die dazugehörigen Betreuungsgeräte aufstellen zu können. Bis zu diesem Endergebnis wird es jedoch noch ein langer Weg sein: Eine weitere Etage auf dem neuen Krankenhaus nebst Innenausbau und Ausstattung: Das ist dann doch ein Millionenobjekt. Es könnte weitere Jahre dauern, ehe die finanziellen Mittel aufgetrieben worden sind und das Werk vollendet werden kann. Wenn es erst einmal soweit ist, erlangt das neue Krankenhaus den Status einer kommunalen Einrichtung von Beit Sahour , einer für palästinensische Verhältnisse mittelgroßen Stadt 10 km vor den Toren Jerusalems und nur drei km neben Bethlehem.

Zur Jahresversammlung 2010 des Fördervereins am 18. September hat der jetzige Chefarzt und Direktor des Zentrums, Dr. Raouf Azar (urologischer Facharzt nach einem Studium in Deutschland), einen umfassenden Bericht darüber vorgelegt, was in den letzten Jahren schon erreicht worden ist. Fertiggestellt wurde 2008 das Kellergeschoss mit all den kostspieligen aber unentbehrlichen Geräten, von der Heizung über den Aufzugsmotor bis zu den Notaggregaten für den Fall des Stromausfalls. Das Erdgeschoss konnte ab 2009 bezogen werden. Dadurch wurde ein erster Schritt zur Entlastung der stark beanspruchten Tagesklinik getan. Registratur, Ärztebüros, einzelne Behandlungszimmer verlagerte man in den Neubau. Die dringend erforderliche Renovierung der Tagesklinik konnte allerdings nur ausgeführt werden, nachdem das erste Obergeschoss des Neubaus voll dienstbereit gemacht worden war.

Seit dem Sommer 2010 stehen den Fachärzten im Neubau zwei Operationsräume zur Verfügung. Zur Chirurgischen Abteilung gehört auch ein Aufwachraum mit zwei Betten. Für eine längere Behandlung können neun Patienten stationär in drei Patientenzimmern aufgenommen werden. Die Kapazität des Teilbetriebs reicht aus, um zehn Fachärzten die Behandlung der Erkrankten auf hohem Niveau zu ermöglichen. (Nicht alle der Fachärzte sind angestellt, sondern sie können die Einrichtungen des Krankenhauses als Belegärzte für ihre Patienten nutzen. Die Red.) Um wie viel durch das Krankenhaus die Zahl der Patientenbehandlungen im Bereich des gesamten Medizinischen Zentrums zunehmen wird, lässt sich zur Zeit noch nicht absehen. Dass sie zunehmen wird, zeichnet sich aber schon ab. Wurden 2009 im ganzen Jahr 35.993 Behandlungen durchgeführt, so waren es bis zum 1. September 2010 über 35.600. Noch deutlicher: Es gab im vorigen Jahr im Medizinischen Zentrum 2106 chirurgische Eingriffe, in diesem Jahr ( Stand: September 2010) schon 3197.

Gesundheitsberatung und –schulung ist keine Neuheit für das Medizinische Zentrum. Mit der Kapazitätsausweitung soll diese Dienstleistung für die Bevölkerung verstärkt werden, zumal im Erdgeschoss des neuen Krankenhauses ein Schulungsraum zur Verfügung steht. Dort soll es bald für Frauen Kurse zum Thema Familienplanung/Geburtenkontrolle sowie über gesunde Ernährung geben. Darüber hinaus lehrt geschultes Personal an 11 Schulen und acht verschiedenen Jugendzentren über Maßnahmen zur Ersten Hilfe und Probleme der Pubertät.


Der neue Eingangsbereich


Die Apotheke




Arbeit im neuen Labor




Die beiden Chefärzte Azar und Nassar als Chirurgen



Dr. Majid Nassar doziert zur Gesundheitspolitik


Der palästinensische Ministerpräsident Salem Fajjad zu Besuch im neuen Krankenhaus