Ich war 17 Jahre alt, als ich die Frau zum ersten Mal traf, deren Name nun die Integrierte Gesamtschule in Uetze tragen will. Wir schrieben damals März 1947. Es waren ziemlich genau zwei Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland vergangen. Die Anreise von meiner Heimatstadt Hannover nach Sülzhayn im Harz war sehr schwierig gewesen. Ich musste in völlig überfüllten Personenzügen bis nach Walkenried fahren, um von dort, unter Führung eines Ortskundigen nach Sülzhayn zu gelangen. Man nutzte Schleichpfade, denn auf halbem Wege gab es eine Grenze, die Grenze zwischen der britischen und der sowjetischen Besatzungszone. Sie war allerdings damals noch nicht befestigt.

Ich hatte die anstrengende Reise gerne gemacht, denn am Zielort wartete mein Vater auf mich. Eduard Wald, von 1936 bis 1945 ein politischer Gefangener des Hitler-Regimes, war in Sülzhayn nun Patient des Carl-von Ossietzky-Sanatoriums. Mein Vater sollte dort ein haftbedingtes Rückenleiden auskurieren, obwohl das Sanatorium auf Lungenkrankheiten spezialisiert war. Es diente jetzt auch als Erholungsstätte für erkrankte Opfer des Hitler-Regimes. Unter diesen Opfern war eine Frau, die ihre Freundinnen und Freunde im Haus nur „Orli“ nannten. Ehe ich zwei Tage später die Rückreise nach Hannover antrat, hatte ich manches erfahren über diese eindrucksvolle Person: Damals 33 Jahre alt, belastet durch vier Jahre und sechs Monate Zuchthaus-Haft, mit einem anschließenden weitere vier Jahre dauernden Gang durch zwei Konzentrationslager. Eines der Lager wurde zum Synonym für den vom Hitler-Regime veranstalteten Kulturbruch, den Holocaust – nämlich Auschwitz.

Neben der Auschwitz-Traumatisierung auch noch belastet mit Lungentuberkulose, war die Frau dennoch Mittelpunkt eines Gesprächskreises. Wenn „Orli“, deren Vorname eigentliche Aurelia lautete, wenn Orli auf ihrem Liegestuhl in der offenen Ruhehalle lag, versammelten sich bald Freundinnen und Freunde um sie und überließen es fast immer ihr, einleitend zu sprechen. Damals berichtete sie wenig über das Grauen, Jahre lang Zeugin des Massenmordens im Stammlager Auschwitz und im Frauenlager Birkenau gewesen zu sein. Ich hörte Orli zu bei weiteren Besuchen in Sülzhayn, ehe mein Vater im Sommer 1947 nach Hannover zurückkehren konnte.

Die Erkenntnisse und Rückschlüsse, die ich aus den ersten Berichten dieser Frau zog, habe ich nicht schon damals, im Frühjahr 1947, ziehen und werten können. Dazu war ich als 17jähriger Jüngling nicht reif genug. Erst nachdem ich Orli in ihren Hannover-Jahren von 1948 bis zu ihrem Tod am 1. Januar 1962 oft getroffen und ihre weiteren Berichte gehört und dann auch gelesen hatte, konnte ich ermessen, was diese Frau auf ihrem Weg durch Kerker und Konzentrationslager erlitten und gleichzeitig aber auch für Andere geleistet hatte. In Sülzhayn berichtete sie über das Ende ihrer Gefangenschaft 1945 – über die Flucht aus einem Außenlager des Frauen-KZ Ravensbrück. Die äußerst schwierige Rückkehr nach Berlin, erste Versuche, sich in Berlin als Schriftstellerin zu etablieren, der Ausbruch ihrer Tuberkulose und schließlich die Überführung in das Sanatorium, das stand 1947 im Vordergrund ihrer Berichte – der Abmarsch von rund 9000 gefangenen Frauen aus Birkenau im Januar 1945, ein Todesmarsch, den hunderte nicht überlebten, die gesteigerte Hektik der Mordmaschine in den vorausgegangenen Monaten – das ganze Auschwitz-Trauma schien 1947 einfach zugedeckt, verdrängt, betäubt gewesen zu sein. Dieses Trauma sollte sie in Hannover dann grausam wieder einholen.

Aurelia Torgau, so ihr Mädchenname, und Eduard Wald waren 1947 ein Paar geworden. Um einen gemeinsamen Zuzug in das halb vom Krieg zertrümmerte Hannover zu bekommen, mussten die beiden so schnell wie möglich heiraten. Das geschah auch. Aber nach einer Verschlechterung der Tuberkulose zur Jahreswende 1947/48 sahen die Ärzte nur durch einen operativen Eingriff eine Chance für das Überleben Orlis. Die Operation wurde in Berlin-Spandau vorgenommen. Anfang März 1948 konnte sie aus dem Sanatorium „zur Fortführung eines kurgemäßen Lebens“ wie es hieß, nach Hannover entlassen werden. Ihr Mann hatte inzwischen eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Hannover-Döhren gefunden. Ab 1950 besserte sich ihre häusliche und die finanzielle Lage deutlich, weil Edu, wie ich ihn nannte, und Orli mit den Mitteln einer Haftentschädigung eine größere Wohnung und etwas mehr Komfort hatten finanzieren können.

Nur mit Geld war allerdings Aurelia Wald nicht wirklich zu helfen. Gewiss, das Geld wurde dringend gebraucht, denn für die vielen notwendigen Arztbesuche wollte keine Krankenversicherung aufkommen. Dabei war sachkundige Hilfe jetzt auch mehr für Orlis schwer verletztes Gemüt dringend notwendig. Die Art an Hilfe war damals fast nicht zu haben. Ganz gewiss erwies sich mein Vater als verständiger und sehr einsatzfreudiger Ehemann, nur war er keine Fachkraft, kein ausgebildeter Therapeut für die kranke Seele seiner Frau. In Sülzhayn so kurze Zeit nach dem Kriegsende hatte man die Verdrängung des Auschwitz-Traumas vor allem mit Tablettengaben unterstützt. In Hannover zu Anfang der fünfziger Jahre wäre ein spezialisierter Psychiater notwendig gewesen.

Es fehlte es im weiteren Umfeld der Patientin auch noch an positivem Verständnis für Orlis Anliegen. Damals hatten Hundertausende mit den Folgen traumatischer Erlebnisse in Lagern, Zuchthäusern, aber auch an der Kriegsfront fertig zu werden. Die Gesellschaft jener Jahre war anscheinend nicht bereit, vielleicht auch nicht genug darauf vorbereitet, den Opfern von Krieg und Faschismus seelische Hilfe zu leisten. Begünstigt durch den Kalten Krieg zwischen dem stalinistischen Ostblock und den Demokratien des Westens, war diese Gesellschaft eher auf Verdrängen und womöglich auf das Integrieren von Mitläufern und Handlangern des Hitler-Regimes bedacht.

Es belastete Orli schwer, dass sie durch den chirurgischen Eingriff in Spandau – man hatte sieben Rippen aus dem linken Brustkorb entfernen müssen – in ihrer Rolle als Frau erheblich eingeschränkt war. Sie hätte gerne ein Kind gehabt, musste jedoch wegen ihrer Krankheit darauf verzichten. Auch ihre physische Beweglichkeit war nun reduziert. Daraus ergab sich ein Mangel an körperlicher Aktivität, der sie im Laufe der Zeit immer stärker auf sich selbst und die schreckliche Vergangenheit zurück drängte.

Mein Vater versuchte seine Frau aus der Isolierung zu befreien, indem er ihr einen neuen Diskussionskreis bot. Alte und neue Freunde kamen regelmäßig in die Wohnung. Orlis Bedürfnis war es dann, über ihre Erfahrungen in Auschwitz zu berichten. Dabei halfen auch die Versuche ihres Mannes nicht mehr, den Redefluss einzudämmen. Orli redete sich in Erregung. „Und auch nachts stehen die Toten von Auschwitz wieder auf“, wie Edu Wald wiederholt anmerkte. Die Betroffene versuchte sich selber zu helfen, indem sie über Auschwitz zu schreiben begann. Es sollte ein ganzes Buch entstehen, doch dazu reichten die Kraft, die Konzentration, die Geduld der Autorin nicht mehr aus. Die kleinen und längeren Prosastücke, die trotz ihrer Behinderung entstanden, sind dennoch eindrucksvoll, erschütternd und oft sogar sehr informativ, was das wohl schlimmste Todeslager des Holocaust betrifft. Als die Autoren Bernd Steger und Günter Thiele erstmals 1989 eine Studie über Aurelia Torgau, genannt Orli, veröffentlichten, waren im Anhang 30 dieser Prosastücke und zwei Gedichte abgedruckt.

Wir haben jene Studie von 1989, ich nur als Herausgeber, „Leben mit Auschwitz“ genannt, nicht „nach“ Auschwitz, sondern „mit Auschwitz“, denn diese Erinnerung ließ sie bis an ihr Lebensende nicht mehr los. Wohl gab es in diesen 15 Hannover-Jahren Orlis auch gute Phasen, freudige Begegnungen, gelungene kleine Reisen. Auschwitz war jedoch nie ganz fern. Begleiten konnte ich Orli 1954 zu einem Besuch bei Jeane und Charles Juda in Echternach/Luxemburg. Jeane war eine gute Freundin, die gerne berichtete, wie sie Auschwitz mit der Hilfe Orlis überstehen konnte. Zu Margarete Glas-Larsson, eine Schauspielerin, reiste die Patientin per Flugzeug nach Stockholm; auch mit ihr war die Freundschaft in Auschwitz entstanden. Etwa ab 1951 setzt Orli sich zunächst schriftlich als Entlastungszeugin für zwei ehemalige Mitgefangene ein, für die Deutsche Klara Pförtsch und die Polin Fela Dreksler. Diesen beiden Frauen hatte die SS, wie tausenden anderen, Häftlingsfunktionen aufgezwungen. Wiederum war Auschwitz der Ausgangspunkt. Zu dem Prozess gegen Klara Pförtsch vor einem französischen Militärgericht in Rastatt reiste Orli an, obwohl sie wieder Fieber hatte.

Zu den Frauen, denen Orli früh zur Hilfe kam, gehörte Margarete Buber-Neumann. Seit 1926 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, emigrierte sie mit ihrem Lebensgefährten Heinz Neumann 1933 nach Moskau. Während der stalinistischen Säuberungen wurde Heinz Neumann 1936 von der sowjetischen Geheimpolizei umgebracht. Margarete überlebte ein Jahr in einem Zwangsarbeitslager und wurde 1940, zusammen mit 30 anderen Deutschen, die meisten davon Kommunisten, von Moskau an Groß-Deutschland ausgeliefert. Sie kam in das KZ Ravensbrück, wo zu der Zeit auch Orli festgehalten wurde. Die beiden Frauen wurden Freundinnen und wehrten gemeinsam von Moskau-treuen Kommunisten gegen Margarete gerichtete Verleumdungen ab. Diese „Genossinnen“ flüsterten, Margarete sei eine von der deutschen Geheimen Staatspolizei in das Lager Ravensbrück entsandte Spionin. Damals erlitt Orlis Bindung an die KPD einen Riss, der es ihr 1948 ermöglichte, sich zusammen mit Eduard Wald völlig von dieser Bindung zu befreien.

Wie kam es nun dazu, dass der Titel „Engel von Auschwitz“, den Mithäftlinge Orli noch im Lager verliehen hatten, sich nach der Befreiung verfestigte; ja 2007 in Hannover Platz auf der Legende des Straßenschilds „Orli-Wald-Allee“ am Engesohder Friedhof fand? Orli äußerte sich zu dieser Bezeichnung eher verlegen. Sie wies auch mehrfach öffentlich darauf hin, dass in Auschwitz, überhaupt in jedem der Vernichtungslager des Hitler-Regimes, niemand ein Engel sein konnte. Etwa ein Jahr nach ihrer Ankunft im Stammlager Auschwitz, wo sie im „Krankenbau“ schon unbeschreibliche Gräuel erlebt hatte, wurde Orli zur Lagerältesten des noch nicht völlig fertiggestellten Krankenreviers im Frauenlager Auschwitz-Birkenau ernannt. Die Ernennung geschah durch den damaligen SS-Lagerarzt Werner Rohde. Somit war sie ohne ihr Zutun ein Funktionshäftling geworden. Ihre Aufgabe als solche bestand darin, verantwortliche Vertreterin des Krankenreviers gegenüber der SS zu sein. Die SS würde sich jeder Zeit an sie halten, wenn sie etwas zu verfügen oder zu bemängeln hätte. „Orli geriet dadurch in eine äußerst schwierige Situation: „Wollte sie sich eine Erleichterung ihrer Lebensbedingungen schaffen, war immer die Gefahr gegeben, dass sie anderen Mitgefangenen schadete“, schrieb zu diesem Punkt Bernd Steger, der Ko-Autor des Buchs „Hinter der grünen Pappe“.

Aurelia Torgau hat, wenn auch schwer verletzt, Auschwitz-Birkenau überlebt, und das gelang ihr nur, indem sie die ihr übertragene Funktion auch ausübte. Ihre herausragende Leistung manifestierte sich darin, dass sie Mitgefangene zwar hin und wieder gemaßregelt, aber nie der SS ausgeliefert hat. Zugleich gelang es der Revierältesten viel häufiger, ihre privilegierte Stellung zu Gunsten von Mitgefangenen auszunutzen. Wir können zehn Namen von Frauen nennen, die nach ihrer Befreiung bezeugten, dass sie in Auschwitz lebensrettende Unterstützung von Orli empfangen hatten. Trotzdem gab es auch solche, die ihr Böses nachsagten, weil sie bis zum Schluss in der Rolle des Funktionshäftlings geblieben war. Dass die üble Nachrede nicht wirklich an Orli hängen blieb, gewissermaßen im Boden versickerte, bewirkten die Danksagungen der mit ihrer oft todesmutigen Hilfe geretteten Kameradinnen. So überlebte der Mythos eines „Engels von Auschwitz“.

Vortrag von Peter Wald am 1. März 2016 in Uetze / Niedersachsen


Beste Wünsche

Im Januar des neuen Jahrs wünsche ich allen Verwandten, Freundinnen und Freunden, überhaupt allen Menschen, die unsere (Ediths und meine) homepage besuchen, dass die kommenden elf Monate von 2016 besser werden als seine ersten 31 Tage! Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es aus Volkes Munde.

Eine gute Nachricht hat uns beim Jahreswechsel aus dem alten in das neue Jahr doch begleitet! Die Leitung der Integrierten Gesamtschule in Uetze bei Hannover schrieb uns, der Schulträger habe dem Vorschlag der Schule, „nämlich diese künftig Aurelia Wald Gesamtschule zu nennen, zugestimmt“. Frank Stöber, Direktor der IGS in Uetze, hatte vor dem Ausschuss für Bildung und Kultur die Gründe für dieses Namenswahl erläutert. „Ich habe dargelegt, dass die Inhalte, die wir mit dem Namen Aurelia Wald verknüpfen, Inhalte sind, die Teil des Schulprogramms werden. Ich nenne hier nur die Begriffe Widerstand, Wider das Vergessen, der Einsatz für Menschen, die Grundhaltung, in einer gerechten und menschenwürdigen Gemeinschaft zu leben sowie Kinder stark zu machen, damit sie nicht an Schicksalsschlägen zerbrechen.“

Direktor Frank Stöber fügte hinzu, der Beschluss des Ausschusses sei einstimmig erfolgt und mit dem Wunsch verbunden worden, die Umbenennung der Schule möglichst zum 01.02.2016 zu vollziehen. Wer inzwischen hier mehr über die so geehrte Frau erfahren möchte, findet in der Sektion Zeitgeschichte weitere Infos.


Hallo, eine Frage noch! Ja?

Warum befassen Steger und Wald sich und uns mit Zuständen und Angelegenheiten, die rund 70 Jahre zurück liegen – wo doch akute Krisen heutzutage viel mehr interessieren?

Gerade wegen der sogenannten Flüchtlingskrise in Europa, den brandgefährlichen Konflikten im Nahen Osten und den rechtsradikalen Manifestationen in Deutschland reden Steger und Wald wieder über Auschwitz. Die akuten Krisen und ihre Auswirkungen bilden nämlich einen Nä hrboden für Extremisten, deren Vorläufer unter Hitler die Welt schon einmal in eine beispiellose Katastrophe geführt haben.



Vortragsveranstaltung mit Peter Wald und Bernd Steger:
„In Auschwitz gab es keine Engel“

Würdigung durch einen Gleichgesinnten. In der Monatszeitschrift „Sozialismus“, publiziert vom Hamburger VSA-Verlag, hat sich Wolfgang Schlott der Autobiografie/Biografie meines Vaters, Eduard oder „Edu“ Wald,  angenommen. Seine Wertung des Werks ist beides: sachverständig und positiv. Hier äußert sich ein unabhängiger Sozialist, der als politischer Gefangener in der DDR Zuchthausjahre abgesessen hat. Der folgende Text ist eine unwesentlich gekürzte Wiedergabe der von Wolfgang Schlott verfassten Rezension.

„Die doppelte Autobiografie von Eduard Wald…, den die Nazis 1936 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilten, und aus der Perspektive seines Sohnes Peter, stellt in der jüngsten Publikationsgeschichte der Doppelbiografie ein gewisses Novum dar. Im Gegensatz zu der Außenperspektive der meisten Biografien…schreibt Peter Wald aus einer wechselnden Perspektive, in der das politische Engagement des Vaters, die relativierende Einschätzung der Vaterfigur und die immer wieder korrigierte Bewertung seiner eigenen Haltung kombiniert werden. In seinem Vorwort, das die Überschrift ‚Mein Vater‘ trägt, dokumentiert er zunächst die zufällige Rettung der handschriftlichen Autobiografie, die Edu Wald im Zuchthaus Sonnenburg (heutig Slonsk in Polen) zwischen 1942/43 schrieb. Wald, 1905 in Kiel in einer religiös besessenen Familie geboren, nahm in den frühen 1920er Jahren Kontakt zur KPD auf. Bald verstärkten sich (früh eingetretene) Zweifel an der politischen Redlichkeit der von Moskau aus dirigierten Kaderpartei. Ungeachtet dessen ging er nach 1933 für die KPD in den Untergrund und wurde 1936 in Berlin verhaftet. Während seiner Zuchthausjahre verstärkte sich sein Misstrauen gegenüber der KPD, ein Gesinnungswandel, der nach 1945 in seiner engagierten Arbeit im Deutschen Gewerkschaftsbund  (DGB) zum Ausdruck kam. Der erste Teil seiner Biografie endete somit auf „halbem Wege“ und mündete in den „ganzen Weg“, auf dem es darum ging, „die Distanz zwischen Vater und Sohn, soweit wie möglich zu verringern.“ (S.9) Die Annäherung bei der Bewertung von Handlungen und Positionen wie auch die gegenseitige Ergänzung von Informationen geben der Publikation eine übersichtliche Struktur.
Im ersten Teil übernimmt Peter Wald die Rolle des ergänzenden Erzählers, dessen Textteil kursiv gesetzt ist. Im zweiten Teil ist es Edu Wald, der einige Textabschnitte (kursiv gesetzt) ergänzt…Besonders aufschlussreich für die Nachkriegsgeschichte von KPD und SPD dürfte dabei der Bericht über den Bruch zwischen den beiden Parteien im Vorfeld von deren Zwangsvereinigung in der Sowjetischen Besatzungszone  sein.  Dass in diesem Kontext auch der damalige Chefredakteur der Berliner Zeitung, Rudolf Herrnstadt, eine gewisse Rolle spielte, überrascht insofern, als dieser in publizistischer Hinsicht für ein Demokratieverständnis innerhalb der KPD und nach 1948 auch im Rahmen der SED und deren Zentralorgan „Neues Deutschland“ eintrat und dafür von der Ulbricht-Clique nach 1953 auf üble Weise kalt gestellt wurde. Der damals in Sachen Parteidisziplin noch unerfahrene Peter Wald, für kurze Zeit im Umfeld von Herrnstadt tätig, flüchtete von Berlin nach Hannover, als er dem damals noch als für den sowjetischen GRU (Militärischen Geheimdienst der Sowjetunion) Tätigen eine Liste aller Freunde und Genossen seines Vaters (als angeblicher Spion der Briten „entlarvt“) zur Verfügung stellen sollte. Umso erfreulicher ist es, dass Peter und Eduard Wald die publizistischen Aktivitäten von Rudolf Herrnstadt Im Vorfeld des Juni-Aufstands 1953 würdigen und damit auch an die leidenschaftlichen und zugleich objektivierenden Aussagen von Irena Liebmann in ihrem Buch über ihren Vater („Wäre es schön? „Es wäre schön!“ Mein Vater Rudolf Herrnstadt. Berlin 2008) anknüpfen.

Abgesehen von solchen Aussagen sind Walds Ausführungen über die Kaltstellung der Gewerkschaft Ostdeutschlands und deren bis 1953 sporadisch bestehenden Beziehungen zum DGB, die in der BRD verhinderte Aufklärung über die Verbrechen der Nazis wie auch über die konkrete Arbeit des DGB für die Rechte der Arbeitnehmer für die Aufarbeitung der Geschichte der Gewerkschaften von besonderem Wert…“

 

 

E D U A R D   U N D  P E T E R  W A L D

Auf halbem und auf ganzem Wege

Der lange Marsch eines deutschen Sozialisten zur Demokratie  (1905-1978)

 

208 Seiten,  51 Abbildungen, Hardcover, 14,80 €

ISBN 978-3-943425-36-9

 

Im März 2014 stellte der Ko-Autor Peter Wald, Jahrgang 1929, mit Hilfe des dort angesiedelten Donat-Verlags in Bremen erstmalig die rudimentäre Auto-Biografie und die ganze Biografie seines Vaters dem Publikum vor. Bald darauf, im Mai desselben Jahres, veranstaltete das Stadtarchiv Hannover eine Lesung. Es war wiederum Peter Wald, der aus dem Werk las, das etwa zur ersten Hälfte aus der Feder des Vaters, zur zweiten Hälfte aus der des Sohnes stammt. Hannover bot im Herbst 2014 Gelegenheit zu einer weiteren Lesung, dieses Mal im Freizeitheim Linden, wo die Otto-Brenner Akademie e.V., „Treffpunkt der Generationen“, die Rolle des Gastgebers inne hatte. Hannover war im politischen Leben des Eduard Wald prägend gewesen. So ergab sich hier auch eine Schwerpunkt-Bildung für die Verbreitung des Werks. Hingegen führte die vierte Lesung zur Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, denn die bewahrt in ihrem „Archiv der sozialen Demokratie“ schon den größten Teil des schriftlichen Nachlasses von Eduard Wald. Diese Veranstaltung im November 2014 lieferte dem Publikum nicht nur Leseproben; sie diente auch dazu, dem Archiv das handschriftliche Original der Autobiografie, geschrieben 1942 im Zuchthaus Sonnenburg, und 50 weitere Briefe des Protagonisten aus Gefängnissen und Straflagern zu übergeben. Die Stiftung bot eine kleine Feierstunde aus diesem Anlass.

Zurück nach Hannover. Lothar Pollähne, Bezirksbürgermeister der Südstadt und Mitarbeiter des SPD-Organs „Vorwärts“, schrieb im Mai 2014 eine Besprechung des Buchs von Eduard („Edu“) und Peter Wald. Daraus einige Auszüge:

„Als ‚Versöhnler‘ und Streiter gegen die Stalinisierung gerät Eduard Wald in der KPD schon 1929 ins Abseits und muss 1930 seine bezahlte Stelle als Redakteur aufgeben. Damit beginnt ‚der lange Marsch eines deutschen Sozialisten zur Demokratie‘. Dieser führt Edu Wald zunächst am Rande der KPD zur Gründung des ‚Komitees für proletarische Einheit‘ und in die Illegalität nach Hitlers Machtergreifung…Im Mai 1936 in Berlin von der Gestapo verhaftet, verbringt Eduard Wald die Jahre bis zur Befreiung in Zuchthäusern und Straflagern…

…Den ‚Weg‘ Edu Walds vervollständigt Sohn Peter aus eigenenErinnerungen sowie Briefen und Erinnerungen des Vaters. Die Geschichte wiederholt sich in Teilen,denn wieder sucht ein Sohn seinen Vater.Der will seinen Platz in der politischen Nachkriegslandschaft definieren. Trotz der tiefgreifenden Differenzen aus der Spätphase der Weimarer Republik beteiligt sich Edu Wald am Wiederaufbau der KPD…Aber wieder überkommen Edu Wald im laufenden Politik-Alltag Zweifel an der eigenen Partei, deren Generallinie nun von Ost-Berlin aus diktiert wird. Es dauert jedoch noch viele Monate, bis die Zweifel an der KPD zur vollen Trennung führen. Ein entscheidender Abschnitt im Trennungsprozess ist ein zehn Monate dauernder Aufenthalt Eduard Walds in einem Sanatorium…in Sülzhayn am Ostharz, damals sowjetische Besatzungszone. Dort lernt Edu seine spätere zweite Frau kennen und gerät in einen Diskussionskreis, in dem die nachmaligen Dissidenten Karl Schirdewan und RudolfHerrnstadt zu den parteikritischen Wortführern gehören…

…Zurück in Hannover, tritt Eduard Wald im Oktober 1948 aus der KPD aus. Seine neue Ehefrau, die Auschwitz-Überlebende Orli Reichert-Wald, billigt das Zerwürfnis und verlässt ihrerseits die SED, der sie 1946 in Berlin beigetreten war…Edu wird Niedersachsen-Redakteur der DGB-Zeitung „Welt der Arbeit“ und Pressesprecher des DGB in Niedersachsen. Das sorgt für die soziale Sicherheit, die vor allem Orli braucht. Liebevolle Pflege kann jedoch ihr langsames Sterben an den physischen und psychischen Erkrankungen infolge neunjähriger Kerker- und Lagerhaft im ‚Dritten Reich‘ nicht aufhalten…

…Der radikale Sozialist Edu Wald gibt ab 1950 den Informationsdienst ‚Feinde der Demokratie‘ heraus, wird Antikommunist und Warner vor der  Schädigung des neues Staates BRD durch alte und neue Rechtsradikale, verdeckte Alt-Nazis. Im DGB gilt er als Vertreter des ‚demokratischen Antikommunismus‘, im Gegensatz zum mörderischen Antikommunismus der Nationalsozialisten…Edu Wald wird in jenen Jahren dem rechten Flügel der westdeutschen Gewerkschaften und der SPD zugerechnet… Aus den Erfahrungen der Weimarer Republik heraus  plädiert er für einen demokratischen Verfassungsschutz und für eine republikanische gesinnte Armee.“

Ausblick. Mit den vier Lesungen im Jahr 2014 soll die Förderung
desGemeinschaftswerks vonEduardund Peter Wald nicht beendet sein. Orli Reichert-Wald erfuhr im vergangenen Jahr in Hannover eine besonders intensive Ehrung, denn der 1. Juli 2014 stand als ihr hundertster Geburtstag zu Buche. In Trier, dem Geburtsort der Aurelia Torgau (so ihr Mädchenname), soll es 2015 die Benennung einer Straße nach der durch hervorragende Tapferkeit in Auschwitz aufgefallenen Frau geben.  Die offizielle Einweihung einer Aurelia Torgau Straße wird auch der Tag einer Lesung in Trier werden.

 

© Peter Wald, letzte Änderungen: März 2016